17. Oktober 2013

5/30*



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Von neuem saßen wir auf dem Bänkchen vor dem Wartehäuschen. Ich fühlte mich bei dem alten Mann sicher.
»Iß noch«, sagte er nach einer Weile, »und hab keine Angst. Ich werde dafür sorgen, daß du sicher nach Casablanca gebracht wirst. Dort wartet jemand auf dich?«
»Nein, ich bin hier ganz allein. Auf der Flucht aus Frankreich.«
Abermals musterte er mich, dann erhob er sich und brachte aus dem Häuschen eine ordentliche Portion Feigen, schüttete sie mir in den Schoß und bemerkte nur: »Du bist jung und hungrig. Und der Krieg ist eine Bestie. Iß und hab keine Angst, bei mir kannst du ruhig warten.«
Als nach einer guten Stunde auf der Straße ein Staubwirbel aufkam, stand der alte Mann auf und begann mit den Händen in den weiten Ärmeln seines Kaftans zu winken. Ein kleiner, leicht schwankender Bus tauchte auf, bremste und blieb kreischend vor dem Häuschen stehen. Er war unwahrscheinlich voll: Männer, Frauen und viele Kinder. Dazwischen Hühner, ein paar Schafe und Ziegen.
 
[ Das Geheimnis der nächsten Minuten | Lenka Reinerová ]
 

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16. Oktober 2013

4/30*



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Atticus erhob sich und ging auf die andere Seite der Veranda. Nach einer gründlichen Untersuchung der Wistariaranken kehrte er zu mir zurück.
»Vor allem, Scout«, sagte er, »mußt du einen ganz einfachen Trick lernen, damit wirst du viel besser mit Menschen aller Art auskommen. Man kann einen anderen nur richtig verstehen, wenn man die Dinge von seinem Gesichtspunkt aus betrachtet.«
»Wie bitte?«
»Ich meine, wenn man in seine Haut steigt und darin herumläuft.«
 
[ Wer die Nachtigall stört | Harper Lee ]
 

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Wenn das Essen vom Himmel fällt ...




Birnenkonfitüre mit Geduld
 
Man pflanze einen Birnenbaum und warte ...
50 Jahre später hängen die Früchte so hoch, dass man nicht mehr drankommt. Also warten – ein paar Tage oder Wochen –, denn dank Wind, Regen und der Schwerkraft liegen sie nach und nach am Boden. Einsammeln, schälen und in kleine Stücke schneiden bis 1 kg zusammen sind.
Mit einer Stange Zimt, 5 Nelken, einem Stück Vanillestange, dem Saft und der abgeriebenen Schale einer Zitrone und 1 kg Gelierzucker in einer Schale vermischen und dann wieder warten: 24 Stunden, bis sie Saft gezogen haben. In einem Topf aufkochen – 4 Minuten lang – Vanille, Zimt und Nelken entfernen. Heiß in saubere Gläser füllen und gut verschließen. Nochmal warten bis die Konfitüre abgekühlt ist, ein paar Stunden oder über Nacht – oder wenn man Glück hat und es nicht mehr ganz für ein Glas gereicht hat und ein Rest in einem Extra-Schüsselchen verweilt auch schon früher: und dann probieren, auf frischem Brot oder – wenn man nicht mehr warten will – einfach einen Löffel schon mal vorab.





14. Oktober 2013

3/30*




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Warum ich schreibe?
Das war nicht vorgesehen. Es hätte nie passieren brauchen. Man lebt nicht alle Leben, die man leben könnte. Es passierte. Nichts läßt sich je rückgängig machen. Es ist mein zweites Leben, alle lächeln, wenn sie es hören, als sei es eine Metapher. Wenn sie meine Photos sehen, werden sie sofort ernst. Weil ich zwei Menschen bin. Der vorher, und der seitdem.
Ich hatte mir nichts vorgenommen, es passierte, wie wenn einer überfahren wird. Oder wie Liebe. Man handelt nicht, es passiert.
„Ich habe ein Gedicht geschrieben“, sagte ich zu ihm. Morgens vielleicht. Vermutlich morgens. „Du schreibst keine Gedichte“, sagte er mißbilligend. „Bis gestern“, sagte ich vorsichtig. „Wie wenn die Katze plötzlich zu reden begänne“, sagte er. „So leicht ist das also“, sagte er empört, als er nach vielem Sträuben es sich angesehen hatte. „Wieso?“ sagte ich. „Was ist leicht?“ „Gedichte schreiben“, sagte er. „Du hast es nie getan. Es ist ein Gedicht.“ Damit knallte er die Tür hinter sich zu. Als ich die Tür knallen hörte, wußte ich, daß es ein Gedicht war.
 
[ Ich schreibe, weil ich schreibe (Warum einer tut, was er tut) | Hilde Domin ]
 
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